Fragmented Order
Kunstraum Hochdorf 2019

Einführung: Dr. phil. Susanne Neubauer

Barbara Davi nennt ihre hier installierte Ausstellung „Fragmented Order“, also „fragmentierte Ordnung“, „zersplitterte Ordnung“, „fragmentarische Ordnung“, „zerstückelte Ordnung“. Dieser vom digitalen Übersetzer DeepL ins Deutsche übertragene Titel öffnet bereits ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten und ich nehme diese, die mir der Computer sehr unbedarft liefert, sehr gerne für weitere Überlegungen zu Davis Ausstellung an. Es interessiert mich immer, mit welchen Begrifflichkeiten visuelle Künstler ihre Werke oder Ausstellungen versehen. Sie bringen damit eine subsummierende Idee auf den Punkt, liefern eine Art Leitlinie ihrer Auseinandersetzung innerhalb des noch vorwerklichen, gedanklichen Raums. Als Schreiberling zu den Werken, die ich zudem und zu allererst beobachte, bilden sich dann automatisch wohlig rankende Gedankengänge, die für mich das Werk aus seiner materiellen Isoliertheit im Raum in einen humanistisch-kulturellen Spannungsbogen schieben.

Ordnung! Mit der Ordnung sind wir gleich im Bereich des Formats, der Gattungen, der Ausdrucksformen. Kaum jemand spricht in der zeitgenössischen Kunst noch von Bildordnung. Dieser Begriff ist bei Barbara Davi auch nicht gemeint, wenngleich ihre fotografischen Arbeiten eine Bildordnung ins Bild zu rücken versprechen. Sie rezipiert in diesen Arbeiten ein konstruktivistisches Gedankengut, indem sie die technischen Möglichkeiten von Bildproduktion und digitaler Bildbearbeitung als ihre Ausgangslage nimmt und diese auch in ihren Möglichkeiten thematisiert. Im technischen Sinne ist die Bildordnung natürlich wesentlicher Bestandteil. Dabei bleibt es aber nicht. Nehmen wir die neue Werkserie der Farbfotografien, ist gut zu beobachten, wie Davi den Bildraum an einzelnen Stellen aufbricht und moduliert. Durch diese Verfahren wird die anfängliche Bildordnung, die noch im Prozess der Modellaufstellung der Glasscheiben seine reale, räumliche Ordnung hatte, operationalisiert. Mit Operationalisierung meine ich eine Bildordnung, die zu einem Format wird, das sich selbst definiert und messbares Konzept wird. In der Ästhetik und Kunstgeschichte ist das Format zunächst Proportion eines Gemäldes, im Bereich der Skulptur ein eher nicht verwendeter Begriff. Denken wir bei Format aber auch an Formatierung, bewegen wir uns in den Bereich der Reproduktionstechniken und des Mediengebrauchs, der in engem Bezug zu unseren Sehgewohnheiten steht. Sehgewohnheiten – ja jede Art von Gewohnheit – haben sie nicht immer mit Automatismen zu tun? Das automatische Sehen, so glaube ich, wird durch die Kunst herausgefordert, indem diese danach fragt, an die Ränder des Sichtbaren zu gehen. Damit meine ich nicht mittels unserer Wahrnehmung, sondern mittels einer Distanznahme, die den Blick auf eine allgemein gültige und relevante Positionierung frei gibt (mit dieser Positionierung werden Werke erst vergleichbar).

Stefanie Stallschus, deutsche Kunsthistorikerin, stellte fest, dass die Idee des Formats erst dann im kunsthistorischen Diskurs an Bedeutung gewann, wo „medientechnische Verfremdungen es zur Disposition stellten und zu seiner bewussten Wahrnehmung beitrugen.“1 Ihre Ausführungen zielen auf Fragen der Massenmedien und deren Archivierung ab und auf deren populäre Adaptationen von Kunst, die durch verschiedene Formate in neue Kommunikationskanäle geleitet werden. Schon die Fotografie an sich ist bekanntlich ein Massenmedium, das dieser Möglichkeit, populär zu sein, nicht negativ gegenüber steht. Bei Barbara Davis Werken würde diese Lesart jedoch in eine falsche Richtung führen. Format ist bei Davi doch eher Form und Ordnung, also der modernistischen Tradition des Stils verpflichtet. Ganz fein ist diese Vorstellung in den Farbfotografien angedeutet, die mich persönlich durch ihre geheimnisvolle Atmosphäre, die sie zu bilden vermögen, an Arnold Böcklins Toteninseln oder an das von Platon erstmals erwähnte versunkene Atlantis erinnern.

1 Stefanie Stallschus, „Format“, in: Kunst<->Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, hrsg. Jörn Schaffaff, Nina Schallenberg, Tobias Vogt, Köln: König, 2013, S. 73-77.
2 Peter Osborne, Anywhere or not at all. Philosophy of contemporary art, London/New York: Verso, 2013, S. 60ff.

Mit der Idee des Fragments greift Davi eine weitere wichtige Kategorie der Kunst auf. Vieles um uns ist nur „imaginierte Einheit“, wie der englische Philosoph Peter Osborne sagt. Gerade in der Fotografie ist seiner Meinung nach alles ein Spannungsfeld von Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit und der Multiplikation von Visualisierungen. Das Fragment ist auch ein absolut wichtiger Topos der Avantgarde, wenn wir an die Montage in der Grafik, im Film und in der Skulptur denken. Osborne selbst legt die Anfänge des Fragmentarischen in die Zeit der deutschen Frühromantik, in der literarische und philosophische Diskurse sich zu überschneiden begannen und zu einer neuen Art Kunstphilosophie führten.2 Relative Unvollständigkeiten lassen sich in den Formen des Essays, der Aphorismen oder der „pensées“ von Blaise Pascale finden. Später wird Adorno die potentiell unendlichen Teile des Wissens „negative Dialektik“ nennen und diese als ein „Anti-System“ entlarven. Osborne sieht die philosophische Bedeutung des Fragments durch seinen Charakter als Medium der Reflexion bestimmt, das auf den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Aspekten absoluten Wissens hinweist. Es ist sehr interessant, gerade diesen Aspekt im Blick zu behalten, da das Fragment auf die Endlichkeit von Wissen hinweist und durch das Bewusstsein seiner „incompleteness“, also Unvollständigkeit, zu einer idealen Form, gerade auch in der Kunst wird. Natürlich können wir nun einwenden, dass ein Fragment sich seiner Bruchstückhaftigkeit nicht gewahr sein kann. Das mag stimmen, trotzdem kommt sein Zustand, Teil eines Ganzen zu sein, das in absolutem Sinne wie im Falle des absoluten Wissens nicht existieren kann, doch auch ganz schön emanzipiert daher.

Das Auseinanderbrechen der Einheit in Kunst und Gesellschaft prägte auch die 1910er und 20er Jahre, diese Periode der Kunst, in der sie durch den Dadaismus gespiegelt tief in die Prozesse der Gesellschaftsumwälzungen eindrang. Auch heute erscheint uns vieles in Stücke auseinanderzubrechen, was sich in der langen ruhigen Periode der fruchtbaren Nachkriegszeit wieder zusammengesetzt hatte. Weniges ist wirklich „ganz“, wenn wir an unsere Umwelt, unsere Psyche oder unseren Körper denken. Ganzheit wird eigentlich nur dem neugeborenen Leben attestiert. In diesem Sinne zeigen uns die Skulpturen von Barbara Davi ein immanent präsentes Wesen unserer Existenz. An der ersten Wand des Ausstellungsraumes angelehnt befindet sich ein Objekt, das die Wand braucht, um nicht umzufallen. Die Metallstruktur hält die Glasscheibe, selbst Teil eines nicht mehr existierenden Ganzen – und hier gilt: nicht berühren! Trotzdem steht das Ensemble. Auch die im Raum befindlichen Objekte stehen, doch die Glasscheiben, die Davi verwendet, triggern in uns gleich den Gedanken: nochmals nicht berühren. Die Farben, die einseitig von der Künstlerin angebracht wurden, weisen keine Hinweise auf grosse Stabilität auf, zu pudrig kommen sie daher, bei unsachgemässem Handeln könnten sie Kratzer abbekommen. Wie in den Fotografien sind in den Raumobjekten gegensätzliche Hinweise in Materialität gelegt: Standhaftigkeit und Schärfe der Kante sowie das Potential des Zerbrechens.
Es ist nicht nur das Skulptural-Architektonische, das sich auch in den Farbfotografien wiedererkennen lässt, was diese beiden Werkgruppen miteinander verbindet. Sondern es sind die sehr subtil eingebauten Momente, in denen die Werke Hinweise auf ihre Offenheit liefern. Dabei denke ich nicht an die Offenheit im bekannteren Sinne, wie sie sie Umberto Eco definiert hat, wenn er von der Dialektik von Kunstwerk und Offenheit schreibt.3 Ich sehe eher einen Bezug zu dem, was Eco mit dem „Unendlichen im Staubzustand“ gemeint haben könnte. In dessen Kontext zitiert er einen Aufsatz über Dubuffet, der in seiner Malerei auf eine Grenze hingewiesen hat. Dubuffet hätte den Unterschied zwischen „dem Gegenstand, der als Denkmaschine, als Meditations- und Schauschirm zu fungieren vermag“ und dem „gemeineren und uninteressanten Gegenstand“ vor Augen geführt. Dieser Unterschied sei jedoch zu subtil und zu unsicher und würde deswegen „den an der Kunst Interessierten“
beunruhigten und ihn in „Verlegenheit bringen“.4 Es ist die „Grenzscheide des prekären Gleichgewichts“ (Eco), die ins Zentrum so vieler Kunstbetrachtungen führt, da sie dort die ureigenste Thematik der Kunst berührt. Bei Davi finden wir vergleichbar diesen einen Punkt, der das Fragment wirklich zur Geltung bringen lässt: Nicht beim 90-Grad-Winkel der Metallstruktur oder bei der aufgetragenen Farbe, sondern an der Stelle, wo eine steilansteigende Spitze einer aufgebrochenen Glasschreibe das Metall berührt, aber über diesen Berührungspunkt hinwegzeigt. An dieser wird das Objekt zum Werk, hier öffnet es sich und wird zum wirklichen Fragment.
3 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt: Suhrkamp, 1973, S. 185.

Mein hier skizzierter Blick gilt auch für die anderen Werke der Ausstellung „Fragmented Order“: Die in schwarz-weiss gehaltene Serie „Pieces (transparent/black and white)“, die zu Lichtzeichnungen werden und als Statements für das gläserne, fragile Bruchstück als ideale Form der Bildwerdung werben. Oder die Werkgruppe der „Liniensammlung“, die aus gefundenen Hölzern besteht, ein Werkmittel, mit dem sich Barbara Davi in ihrer bisherigen künstlerischen Arbeit immer wieder beschäftigt hat. Die an Skulpturen Brancusis entfernt erinnernde „Liniensammlung“ erhalten durch ihre aufgetragene Farbe eine Rückführung in Objekte, die sie in ihrer ursprünglichen Form als „found objects“ noch nicht waren. Auch in diesen Arbeiten manifestiert sich folglich die Abarbeitung am Thema des Fragments, in „fragmentierter Ordnung.“


Review by Sarah Mühlebach
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